Auf der Frankfurter Buchmesse 2019 erzählte mir eine Verlagslektorin von einem bevorstehenden Übersetzungsprojekt. Allerdings wären die Verhandlungen bezüglich der Publikationsrechte noch nicht in trockenen Tüchern. Ob ich womöglich um den Jahreswechsel Kapazitäten dafür hätte, wollte sie wissen. Ein Blick auf meinen Projektplan ließ mich die Stirn runzeln. Doch insgeheim ahnte ich schon, dass mich das Buch zu sehr reizen würde, um abzulehnen.
Und so kam es auch. Als der Verlag wenig später die Übersetzungsrechte erwarb und daraufhin mit der konkreten Anfrage und weiteren Details auf mich zukam, musste ich nicht mehr lange überlegen. Ein Fantasyroman für Leser*innen ab elf Jahren mit einer schwarzen Protagonistin, die sich damit durchschlägt, in den Abwasserkanälen einer großen Stadt nach Wertsachen zu suchen. Lara ist so mitfühlend, dass sie einem schwächeren und jüngeren Freund auch hilft, wenn sie sich dadurch selbst in Gefahr bringt oder hungern muss. Über allem schwebt eine uralte magische Bedrohung – verursacht durch Mrs Hester, die Beraterin des Silberkönigs. Klingt ein bisschen klischeehaft, funktioniert aber ausgezeichnet – vor allem aufgrund der großartigen Charakterzeichnung. Außerdem wird die Atmosphäre der Stadt, die an das viktorianische London angelehnt ist, auf wunderbare Weise lebendig.
Unterstützung durch Verlagslektorin und Autor
Für Beltz und Gelberg hatte ich zuvor schon zwei Bücher übersetzt, ich kannte also schon die Strukturen und konnte mich sofort aufs Übersetzen konzentrieren. An dieser Stelle möchte ich schon einmal meiner Lektorin Isabelle Ickrath danken, die mir von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite stand. Auch der Autor selbst war sehr hilfsbereit und hat meine Rückfragen ausführlich beantwortet. Darunter waren recht einfache (Darf ich an einer Stelle, an der im Englischen das Geschlecht zweier Personen nicht eindeutig genannt wird, zwei Frauen daraus machen? Was hat der Autor in der Szene vor Augen gehabt?), aber auch komplexere Fragen zu Zusammenhängen im Plot. Immernacht bildet den Auftakt einer Trilogie. Da kann ein Missverständnis, das im ersten Band noch nicht auffällt, später unangenehme Folgen haben. Deshalb war es mir besonders wichtig, mit dem Autor in Kontakt zu treten.
Fantasy-Elemente und viktorianisches Flair
Eine große Herausforderung war erstens, für die Fantasy-Elemente stimmige Begriffe zu finden, und zweitens, das viktorianisch-britische Flair auch in der deutschen Ausgabe zu vermitteln. Mit dem zweiten Punkt war die Frage verbunden, ob die Tätigkeit der Protagonistin Lara übersetzt werden sollte. Einfacher gemacht wurde mir das durch Terry Pratchett. Genauer gesagt durch Andreas Brandhorst, der Pratchetts Roman Dodger ins Deutsche übertragen hat (Dunkle Halunken, 2015 bei Piper erschienen). Der Protagonist Dodger ist ein Tosher – wie Lara. Und Brandhorst behielt diesen Namen auch in der deutschen Fassung bei. Das bestärkte mich in meiner Entscheidung, Lara zur Tosherin zu machen – was auch deswegen naheliegend war, weil es schlichtweg keine genaue deutsche Entsprechung dafür gibt. Und was ein Tosher oder eine Tosherin so macht, wird im Buch deutlich. Das ist übrigens nicht die einzige aus heutiger Sicht kuriose Tätigkeit, die im Buch vorkommt. Es wird zum Beispiel auch Pferdemist auf der Straße gesammelt – und magische Kraft aus Wolken geerntet.
Eine weiterer kniffliger Punkt bei der Übersetzung war die Frage, wie die zwei verschiedenen magiebegabten Fraktionen auf Deutsch genannt werden, die im Original vorkommen: „Witches“ und „Hags“. Das war besonders verzwickt, weil die beiden anders miteinander verknüpft sind, als es zuerst den Anschein hat. Welche Übersetzung sich am Ende in Absprache mit der Verlagslektorin durchgesetzt hat … findet man im Buch heraus.
Klare Leseempfehlung
Klar, ich bin als Übersetzer parteiisch. Aber ich muss es einfach betonen: Die Geschichte ist außergewöhnlich berührend und nicht nur für junge Leser*innen absolut lesenswert (zu jung oder zu zart besaitet sollten sie übrigens auch nicht sein, es geht im Buch hin und wieder etwas handfester zu). Ich war selbst überrascht, wie sehr mich die Charaktere in ihren Bann gezogen haben. Außerdem durfte ich eine Menge über die Lebenswelt des viktorianischen England lernen und bin froh, dass ich an der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe mitwirken durfte.
